Der junge Mann auf meinem Sofa ist den Tränen nahe: “Ich wär so gern normal” platzt es aus ihm heraus. Dabei ist das, was ihn von den “Normalen” unterscheidet, nicht etwa etwas Gefährliches oder Kriminelles – nein, er hat einfach nur einen geheimen Kink. Konkret wünscht er sich, mittels Hypnose “manipuliert und kontrolliert” zu werden.
Vor einigen Wochen hatte mich Alex vom YouTube-Kanal “reporter” (WDR/funk) per E-Mail angeschrieben. Er arbeite gerade an einer Reportage zum Thema Fetisch und Stigma. “Dafür drehe ich mit einem Protagonisten, der einen Hypnose-Fetisch hat. Er sagt, er leidet insofern darunter, als dass er den Fetisch nicht so richtig in seinem Leben akzeptieren kann und sich dafür schämt. Er möchte daran aber etwas ändern und seinen Fetisch besser kennenlernen.”
Da rannte er bei mir natürlich gleich doppelt offene Türen ein: Nicht nur, weil es um Hypnose ging, sondern weil ich als Sexarbeiterin mit Schwerpunkt für Kreatives sowieso regelmäßig Ansprechpartnerin für solche inneren Konflikte meiner Gespielen bin.
“Warum bin ich so?”
Das ist oft eine zentrale Frage auf der Suche nach Selbstakzeptanz. Warum finden manche Menschen ein Machtgefälle sexy, stehen auf Fesseln, Spanking oder Dirty Talk, darauf vom Partner oder der Partnerin “gedankenmanipuliert” oder “sexuell benutzt” zu werden?
Es scheint, als gäbe es dafür jede Menge guter Gründe. BDSM hat in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeiten mit Mediation: Schmerz lässt Ablenkungen verblassen, Subspace fährt höhe Hinfunktionen herunter und verschafft Urlaub vom Grübeln, Topspace ist ein Flow-Zustand, in dem alles einfach wie von selbst läuft. Angst und Aggression können im Gehirn sexuelle Lust hervorrufen oder verstärken (dieses Phänomen ist als Erregungstransfer bekannt), und auf einer gefährlich schwankenden Brücke verliebt es sich leichter.
Die zahlreichen mehr oder weniger repräsentativen Umfragen der letzten Jahre zur Verbreitung solcher Interessen erbringen Ergebnisse zwischen 5-10% aktiv praktizierenden BDSMern und 75% Menschen mit entsprechenden, teils unausgelebten sexuellen Phantasien.
Kinks und Fetische sind also offenbar weder ungesund noch selten, ganz im Gegenteil. “Ich wär so gern normal” bricht mir das Herz. Ich würde so gern in einer Gesellschaft leben, in der die Vielfalt sexueller Interessen vorbehaltlos respektiert wird – denn fast immer ist nicht die Phantasie an sich das Problem, sondern durch sexfeindliche Erziehung internalisierte Scham oder ein prüdes Umfeld.
Das ist ein so wichtiger Punkt, in dem wir als Sexworker die Welt ein bisschen besser machen können: Indem wir urteilsfreie Räume schaffen und Menschen darin unterstützen, Aspekte ihres Selbst strahlen zu lassen, die bis dahin unterdrückt waren.
Der Protagonist muss das Ganze natürlich auch erst mal sacken lassen. Aber ich habe den Eindruck, ich konnte in unserem zweistündigen, sehr emotionalen Gespräch durchaus ein Stück weit zu Entspannung und Selbstakzeptanz beitragen.
Die Video-Reportage
Da die Doku mit einer Altersbegrenzung versehen wurde, können wir sie leider nicht hier im Blog-Beitrag einbetten. Ein Klick aufs Bild bringt dich direkt zum Video auf YouTube.
Und wie war’s bei dir?
Bist du mit deinen Kinks im Reinen? Hat sich diesbezüglich etwas für dich mit der Zeit verändert? Schreib einen Kommentar!
Ich glaube das das Alter eine große Rolle spielt, bei der Sexualität. Heute lebe ich meine Kings viel freier und insgesamt intensiver aus. Das Geheimnis ist eigentlich ganz einfach… Du musst mit deiner Partnerin über deine Wünsche und Träume kommunizieren. Es steht mir ja nicht auf der Stirn geschrieben, dass ich gerne Natursekt trinke oder mich in den Arsch ficken lasse. Inzwischen formuliere ich meine Wünsche und Träume und meine Partnerin genießt es genauso wie ich. Warum sollte man nicht Dinge tun, die beiden Spaß machen und die einem gut tun. Also hat das Alter auch etwas wunderbares 😇
Lieben Gruß aus dem Chiemgau, Thommy
Wow, ich hoffe, er findet zu einem positiven Umgang mit seinen Kinks! ❤️
Ich kann das durchaus nachvollziehen, auch wenn es bei mir vielleicht nicht so heftig war. Bei mir gab es längere Zeit Phasen, in denen BDSM-Dinge mich sehr fasziniert haben, gefolgt von starker Abneigung gegenüber dieser Faszination. Irgendwann konnte ich zumindest die Ablehnung hinter mir lassen (“ich tue ja niemandem weh damit”). Mittlerweile würde ich definitiv sagen, dass meine Kinks mich bereichern und ein Teil von mir sind. (Danke, Undine…)
Bei Eigenschaften, die nicht der “Norm” entsprechen, ist es glaube ich sehr wichtig zu wissen, dass man vielleicht einer Minderheit angehört, aber auf keinen Fall alleine “so” ist. Deshalb vielen Dank an reporter und Undine für die Sichtbarkeit!
Den Gedankengang “Sex war für mich nie so aufregend und ich dachte, ich bin asexuell” kann ich nur zu gut nachvollziehen.
Dass ausgerechnet “60 Shades” der Frau bei der Entdeckung von BDSM halfen, ist ja fast schon klischeehaft – aber wenn es auf dem Weg hilft, ist der Ausgangspunkt ja nicht so wichtig.